Neurodiversität, ADHS und ADS: Krankheit oder menschliche Vielfalt?

Einleitung
Der Begriff Neurodiversität entstand in den 1990er-Jahren im Autismusdiskurs (Judy Singer) und beschreibt die Vielfalt menschlicher kognitiver und neurologischer Ausdrucksformen. In den letzten Jahren wird er zunehmend auf ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung ohne Hyperaktivität) angewandt. Die Kernfrage lautet: Handelt es sich um klar definierbare Pathologien, oder sind diese Erscheinungsweisen Ausdruck einer normalen, wenngleich herausfordernden menschlichen Vielfalt?
Diese Spannung zwischen medizinischem Krankheitsmodell und pluralistischem Diversitätsmodell prägt den Diskurs in Psychiatrie, Psychologie, Psychotherapie und Philosophie.
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Psychotherapeutische Sichten auf ADHS und ADS; Krankheit, Variation oder beides?
ADHS und ADS – Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Die DSM-5 unterscheidet drei Präsentationen:
Vorwiegend unaufmerksamer Typ (häufig als ADS bezeichnet).
Vorwiegend hyperaktiv-impulsiver Typ.
Kombinierter Typ (klassisches ADHS).
ADHS: Symptome sind motorische Unruhe, Impulsivität, Schwierigkeiten, Aufmerksamkeit über längere Zeit zu halten. Häufig treten soziale Konflikte, Lernprobleme und emotionale Dysregulation auf.
ADS: Symptome liegen stärker im Bereich der Unaufmerksamkeit: langsame Verarbeitungsgeschwindigkeit, Vergesslichkeit, Tagträumen, leises Zurückziehen. Hyperaktivität fehlt weitgehend.
Die Unterscheidung ist klinisch bedeutsam, da ADS-Betroffene oft übersehen werden. Fachlich bleibt sie jedoch umstritten: Manche Forscher sprechen von zwei verschiedenen Subtypen, andere sehen sie als Spektrumsvarianten einer Störung.
Psychiatrische Perspektive
In der ICD-11 und im DSM-5 gelten ADHS und ADS als neurobiologisch basierte Störungen. Diagnostik erfolgt anhand standardisierter Kriterien, ergänzt durch klinische Interviews und Berichte aus unterschiedlichen Lebensbereichen.
Pharmakotherapie: Stimulanzien wie Methylphenidat oder Amphetaminpräparate gelten als wirksamste Behandlung, insbesondere bei Hyperaktivität und Impulsivität. Nicht-stimulierende Medikamente (Atomoxetin, Guanfacin) sind Alternativen.
Wirksamkeit: Zahlreiche Metaanalysen belegen eine deutliche Reduktion der Kernsymptome, allerdings mit Nebenwirkungen wie Appetitverlust, Schlafstörungen und emotionaler Abflachung.
Kontroverse: Kritiker weisen auf Überdiagnostik, Medikalisierung und eine Anpassung an gesellschaftliche Leistungsnormen hin.
Psychologische Perspektive
Psychologische Modelle versuchen, die Symptomatik auf funktionaler Ebene zu verstehen:
Exekutivfunktionsmodell: Defizite in Inhibition, Arbeitsgedächtnis und Planung.
Motivationale Modelle: Delay Aversion (Aversion gegenüber Belohnungsverzögerung) führt zu erhöhter Impulsivität.
Neuropsychologische Modelle: Dysregulation dopaminerger Systeme verändert Belohnungswahrnehmung und Reizverarbeitung.
Kognitive Verhaltenstherapie: Fokus auf Strukturierung, Selbstinstruktion und Training von Aufmerksamkeit.
Bei ADS dominieren vor allem selektive Aufmerksamkeitsprobleme und geringe Verarbeitungsgeschwindigkeit.
Humanistische und gesellschaftskritische Perspektiven
Die humanistische Psychologie sieht ADHS und ADS nicht vorrangig als Defizite, sondern als Ausdruck unterschiedlicher Begabungen: Kreativität, Spontaneität, hohe Sensibilität und ungewöhnliche Problemlösestrategien.
Die Neurodiversitätsbewegung fordert, ADHS/ADS als Varianten menschlicher Vielfalt zu betrachten. Diese Sicht schützt vor Stigmatisierung, betont aber zugleich, dass individuelle Beeinträchtigungen real sind und Unterstützung benötigen.
Gesellschaftskritik:
Hohe Diagnoseraten spiegeln eine Leistungsgesellschaft, die lineares, kontinuierliches und standardisiertes Arbeiten erzwingt.
Hartmut Rosa spricht von einer „Beschleunigungsgesellschaft“, in der Abweichungen von Daueraufmerksamkeit und Effizienz schneller als „Störung“ erscheinen.
Gestalttherapie: Beziehung, Kontakt und Situierungsfähigkeit
Die Gestalttherapie (GTh) versteht Symptome als Ausdruck von Kontaktunterbrechungen. ADHS und ADS zeigen sich als Schwierigkeiten, im Feld von Person und Umwelt stimmigen Kontakt herzustellen und aufrechtzuerhalten.
Beziehung und Bindung: Unruhe oder Abdriften können Schutzfunktionen in unsicheren Beziehungssituationen sein.
Situierungsfähigkeit: Gemeint ist die Fähigkeit, sich innerlich und äußerlich in einer Situation zu verorten – leiblich (Körperhaltung, Spannung, Tempo), psychisch (Stimmung, Affekte), sozial (Rolle, Beziehung) und zeitlich (Hier-und-Jetzt statt Rückzug in Vergangenheit oder Zukunft).
Phänomenologie und Leiblichkeit: In Anknüpfung an Merleau-Ponty ist Verhalten nicht nur kognitiv, sondern leiblich fundiert. Aufmerksamkeit ist immer schon ein leiblich-situatives Bezogensein.
Therapeutische Arbeit zielt auf Stärkung dieser Situierungsfähigkeit, auf Achtsamkeit für den eigenen Rhythmus und auf eine flexiblere Kontaktgestaltung.
Psychoanalyse und Lacan
Die Psychoanalyse versteht ADHS/ADS nicht primär als Funktionsstörung, sondern als Symptom mit unbewusster Bedeutung.
Klassisch: Unruhe oder Unaufmerksamkeit können Ausdruck ungelöster innerer Konflikte sein, etwa im Spannungsfeld von Nähe und Distanz.
Übertragung und Gegenübertragung: Dynamiken des „Nicht-zu-Ende-Führens“ oder des „Überstürzt-Seins“ können sich im therapeutischen Setting spiegeln.
Lacans Perspektive:
ADHS und ADS sind nicht Typen, sondern können als Effekte der Signifikantenordnung verstanden werden.
Das Objekt a fungiert als unerreichbares „Mehr“, das die Aufmerksamkeit antreibt.
Hyperaktivität kann als Suche nach dem Begehren des Anderen gedeutet werden.
ADS wiederum zeigt sich als „Lücke im Symbolischen“, in der das Subjekt keinen Zugang zu motivierenden Signifikanten findet.
Systemische Familientherapie und Gruppenanalyse
Systemische Perspektive: ADHS/ADS werden relational verstanden. Symptome spiegeln Interaktionsmuster (z. B. Parentifizierung, Rollenkonflikte, schulische Erwartungen). Die Diagnose kann entlastend wirken, aber auch neue Rollenverteilungen im Familiensystem stabilisieren.
Gruppenanalyse: In Gruppen entfalten sich Resonanzen, die Betroffenen helfen, ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung zu korrigieren. Über Spiegelungen können Impulse reguliert und soziale Kompetenzen gestärkt werden.
Kulturelle Dimension
Historisch reicht die Beschreibung von „Zappelphilipp“ (Heinrich Hoffmann, 1845) bis zu modernen Klassifikationen. Das verdeutlicht, dass kulturelle Normen maßgeblich bestimmen, was als störend oder behandlungsbedürftig gilt.
Fazit
ADHS und ADS bewegen sich im Spannungsfeld von medizinischer Pathologie und menschlicher Variation.
Das medizinische Modell ermöglicht gezielte Diagnostik und Behandlung, lindert Leid und verbessert Funktionsfähigkeit.
Das humanistische und gesellschaftskritische Modell schützt vor Stigmatisierung und öffnet den Blick für die Vielfalt menschlicher Existenzweisen.
Ein multiperspektivischer Zugang – psychiatrisch, psychologisch, gestalttherapeutisch, psychoanalytisch, systemisch und gesellschaftskritisch – ermöglicht ein Verständnis, das Betroffenen Unterstützung bietet, ohne sie auf Defizite zu reduzieren. Ziel ist ein nicht-stigmatisiertes, selbstbestimmtes Leben.
ADS und ADHS in Graz – Psychotherapie in Graz
Literatur
Barkley, Russell A. (2015): Attention-Deficit Hyperactivity Disorder. A Handbook for Diagnosis and Treatment. Guilford Press, New York.
Brown, Thomas E. (2013): A New Understanding of ADHD in Children and Adults. Routledge, New York.
Hartmann, Thom (2016): Eine andere Art, die Welt zu sehen. Das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom. Klett-Cotta, Stuttgart.
Kapp, Steven K. (Hg.) (2020): Autistic Community and the Neurodiversity Movement. Springer, Singapore.
Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp, Berlin.
Rösler, Michael / Retz, Wolfgang (2010): ADHS im Erwachsenenalter. Schattauer, Stuttgart.
Singer, Judy (2017): Neurodiversity: The Birth of an Idea. Kindle Edition.
Wong, Billy / Vallianatos, Helen (2022): Reframing ADHD: A Critical Examination of Diagnosis and Treatment. Social Science & Medicine, 295, 114707.